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Ausgabe SoSe07 - 5
Autor Johannes Kaufmann

"Von Juden wird mehr verlangt" – BUZe im Gespräch mit einer Jüdin

Religionen im Gespräch - ungekürzte Onlineversion

 

Irina B.* (25) ist gebürtige Russin und kam mit ihrer Familie vor zehn Jahren aus St. Petersburg nach Hannover, wo sie der liberalen jüdischen Gemeinde beitrat. Sie studiert Wirtschaftsinformatik im 5. Semester an der TU Braunschweig. Irina hat uns gebeten, auf ein Foto von ihr zu verzichten – eine Maßnahme, die bedauerlicherweise nur zu verständlich ist, wie dieser Artikel belegt. Das Interview führte Johannes Kaufmann.

BUZe: Als Jude wird man geboren, deswegen hat die Familie eine wichtige Bedeutung im Judentum. Wurdest du religiös erzogen?

Irina: Meine Eltern sind überhaupt nicht religiös – eher antireligiös. Im kommunistischen Russland ist Religion zu einer Art Märchen mutiert. Zwar kannten meine Eltern einige Bräuche und Gerichte wie Gefillte Fisch, und sie konnten auch auf Jiddisch schimpfen. Aber mehr kannten sie nicht. Ich bin dann mit Sechs auf eine Anzeige in der Zeitung hin auf eine Sonntagsschule gekommen, weil meine Eltern keine Betreuung für mich finden konnten. Später bin ich aufgrund meiner eigenen Entscheidung auf ein orthodoxes jüdisches Gymnasium gegangen.

BUZe: Das muss ja noch in der Sowjetunion gewesen sein. Da gab es solche Schulen?

Irina: Es gab ein paar Organisationen, die versucht haben, das Judentum langsam wieder in der Gesellschaft zu etablieren. Am Anfang bestanden die meist nur aus einem Zusammenschluss weniger Einzelpersonen. Nach und nach sind diese Organisationen gewachsen und haben Gymnasien, Sonntagsschulen und ähnliche Einrichtungen gegründet. Auch die Synagoge wurde neu geweiht und wieder eröffnet.

BUZe: Du warst also auf einer orthodoxen Schule, bezeichnest dich jetzt aber als liberal. Hat die Emigration nach Deutschland etwas an deinen religiösen Überzeugungen geändert?

Irina: Auf jeden Fall. Ich habe das liberale Judentum vorher überhaupt nicht gekannt. An meine liberale Gemeinde in Hannover bin ich vor allem über die Leute, die mit sehr am Herzen liegen, herangeführt worden. Später habe ich dann die Grundsätze des liberalen Judentums kennen und schätzen gelernt.

BUZe: Aus welchem Grund bist du denn letztendlich der liberalen Gemeinde beigetreten?

Irina: In dieser Zeit entstand der Verein „Jung und Jüdisch“. Einer der Begründer ist ein guter Freund von mir – ein praktizierender Jude. Der Grundsatz dieses Vereins ist der freie und offene Austausch unter Angehörigen aller jüdischen Glaubensrichtungen [im Alter zwischen 18 und 35 Jahren – J.K.]. Es ist eine gemeinsame Plattform zur Diskussion. Die Veranstaltungen dieser Organisation finden immer abends in der liberalen Gemeinde statt. Ich bin also über „Jung und Jüdisch“ zu meiner Gemeinde gekommen.

BUZe: Und was waren die religiösen oder theologischen Gründe für deinen Übertritt?

Irina: In der Orthodoxie wird alles, was in der Tora steht, einfach hingenommen. Man braucht also nicht selbst nachzudenken. In den Toraschulen lesen sich die Schüler (alles Männer) jede Woche ein bestimmtest Kapitel durch, um dann darüber zu diskutieren. Das Lernen gilt zwar als das Wichtigste überhaupt, aber die Diskussion muss sich immer innerhalb bestimmter Grenzen bewegen. Diese Beschränkung gefällt mir nicht. Die Liberalen sind da offener. Meiner Meinung nach ist es viel schwieriger und auch anspruchsvoller, selbst zu entscheiden und zu urteilen.

BUZe: Spielt Religion in deinem Alltag und deinem Studium eine wichtige Rolle?

Irina: Teilweise. Ich achte beispielsweise darauf, dass ich nach einem fleischhaltigen Essen in der Mensa nicht sofort einen Kaffee mit Milch trinke, weil Fleisch und Milch nach den jüdischen Speisegeboten strikt getrennt werden. Ich faste auch an Jom Kippur. Auf diese Weise erinnere ich mich selbst daran, wer ich bin. Ich vermeide auch, Schweinefleisch zu essen. Wenn ich aber bei anderen Leuten zu Besuch wäre, und es gäbe nur Schwein, dann würde ich aus Höflichkeit etwas davon essen. Ich bin dazu erzogen worden, meinen Gastgebern keine Schwierigkeiten zu machen. Ich versuche also, auf Schweinefleisch verzichten, aber notfalls – wenn ich nichts anderes hätte – würde ich es auch essen.

BUZe: Hältst du die Gebote zum Schabat ein? Beispielsweise ist ja das Schreiben am Samstag verboten.

Irina: Ich lerne und schreibe am Schabat. Meine Prüfungen haben da für mich Vorrang. Da ich in der Woche zumeist arbeite, bleibt mir nur das Wochenende zum Lernen.

BUZe: Da sind die Sachzwänge also stärker als die religiösen Gebote.
Als Nicht-Jude gelte ich als Zaddik, als Gerechter, solange ich mich an sieben durchaus vernünftige Gesetze halte. Du hingegen hast dich als Jüden nach nicht weniger als 613 Geboten zu richten. Ist das nicht ungerecht?


Irina: Die anderen 606 Gebote sind größtenteils nur eine detailliertere Ausprägung der wichtigsten sieben Gesetze. Wer diese einhält, ist in meinen Augen ein guter Mensch. Aber tatsächlich wird von Juden mehr verlangt. Deswegen ist es auch keine Arroganz der Juden, sich als auserwähltes Volk zu bezeichnen. Denn das ist vielmehr eine schwierige Aufgabe als ein Privileg. Ich persönliche halte mich nicht an alle Gesetz und verlange auch nicht von anderen mehr als von mir selbst.

BUZe: Damit scheiterst du in gewisser Weise an den Anforderungen, die an dich gestellt werden. Macht deine Religion dir ein schlechtes Gewissen?

Irina: Manchmal schon. Es gibt bei mir Phasen, in denen ich mir sage, ich könnte mehr machen, mich stärker an die Gebote halten. Aber diese Phasen sind ziemlich selten.

BUZe: Einer der Artikel dieser Ausgabe der BUZe beschäftigt sich mit dem Thema Antisemitismus unter Studierenden. Hast du in Deutschland Erfahrungen mit Judenfeindlichkeit gemacht?

Irina: Leider ja. Ich unterhalte mich gern mit Freunden und Bekannten über das Internet mit Hilfe verschiedener Chat-Programme. Bei einem dieser Programme habe ich in meinem Profil unter Sprachen auch Hebräisch angegeben. Daraufhin habe ich Nachrichten von Unbekannten bekommen, die mich beleidigten und mich aufforderten, mit meiner „gesamten Mischpoke“ zurück nach Israel zu verschwinden. Glücklicherweise habe ich nur wenige solche Erfahrungen machen müssen. Eine gute Freundin von mir – Vorsitzende bei „Jung und Jüdisch“ – wurde, nachdem sie einige Interviews gegeben hatte, massiv bedroht und hat sogar Morddrohungen erhalten.

BUZe: Wie gehst du damit um? Vermeidest du es, andere Leute wissen zu lassen, dass du Jüdin bist?

Irina: Ich vermeide es nicht, bin aber im Allgemeinen sehr wählerisch in meinen Kontakten. Man sieht mir nicht an, dass ich Jüdin bin, und Menschen, die ich noch nicht gut kenne oder denen ich skeptisch gegenüberstehe, müssen das auch nicht unbedingt wissen.

BUZe: Stellt deine Religion einen Faktor in der Auswahl deiner Freunde dar?

Irina: Nein. Ich habe auch nicht-religiöse und christliche Freunde. Durch die Mitgliedschaft bei „Jung und Jüdisch“ lerne ich aber natürlich viele Juden in meinem Alter kennen. Daher ist ein Großteil meiner Freunde und Bekannten jüdisch. Bei meinem Partner, den ich übrigens bald heiraten werden, war es mir allerdings wichtig. Ich lege auch großen Wert auf eine jüdische Hochzeit. Davon habe ich immer geträumt.

BUZe: Ich hoffe natürlich, dass deine Ehe glücklich wird. Falls nicht, gibt es im Judentum aber Gesetze, die die Scheidung regeln. Zum Vollziehen der Trennung bedarf es eines Scheidungsbriefes vom Ehemann. Wenn dieser sich weigert, kann sie theoretisch nicht vollzogen werden.

Irina: In einem solchen Fall richte ich mich nach den Gesetzen des deutschen Staates. Wenn weltliches und religiöses Recht in Konflikt geraten, hat das weltliche Recht Vorrang.

BUZe: In der religiösen Praxis kann man in vielen jüdischen Gemeinden sicher nicht von Gleichberechtigung von Mann und Frau sprechen. So dürfen Frauen im Gottesdienst nicht mitsingen. Ist deine Religion – zumindest in der orthodoxen Form – diskriminierend?

Irina: Aus heutiger Perspektive sicherlich. Doch wird das in der Tora aus der größeren Nähe der Frau zu Gott begründet. Daher muss sie weniger lernen und hat weniger Gesetze einzuhalten. Man muss das historisch betrachten. Dem liberalen Judentum ist es gelungen, die Religion in diesem Punkt den modernen Verhältnissen anzupassen. Dafür wird es von manchen zwar als „judaims light“ bezeichnet, aber meines Erachtens ist es sogar schwieriger, sich mit der eigenen Religion in dieser Form auseinanderzusetzen, als einfach das Alte zu übernehmen wie bei den Orthodoxen.

BUZe: Du sagtest eben, dass du deine Religion nicht verheimlichst. Aber du trägst sie auch nicht so offen nach außen, wie viele gläubige Christen das tun. Hängt das auch damit zusammen, dass du in Deutschland lebst? Würdest du sagen, dass Antisemitismus in Deutschland noch immer eine Rolle spielt?

Irina: Ja. Die Erfahrungen, die meine Freunde und Bekannten gemacht haben, bestätigen das. Bei meinen fast täglichen Bahnfahrten von Hannover nach Braunschweig habe ich schon jede Menge antisemitische Gespräche – vor allem unter Neonazis – mitbekommen. Gleichzeitig hat es mich aber auch sehr gefreut, wenn dann Jugendliche demonstrativ aufgestanden sind, um sich einen anderen Platz zu suchen.

BUZe: Neonazis sind Extremisten, die in so gut wie jeder Gesellschaft vorhanden sind. Wesentlich bedrohlicher erscheint es mir, wenn man bei politischen Diskussionen im Internet merkt, dass ein latenter und subtilerer Antisemitismus in einer wesentlich breiteren Basis vorhanden ist.

Irina: Ich glaube, solche Menschen haben nicht nur eine Abneigungen gegen Juden, sondern auch gegenüber allen anderen Fremden. Wobei Judenfeindlichkeit wohl eine besondere Form der Fremdenfeindlichkeit ist.
Es heißt manchmal, Michel Friedmann werfe durch seine Art, Interviews zu führen, ein schlechtes Licht auf die Juden in Deutschland. Das hat aber doch mit mir nichts zu tun. Ich finde seine Art, Leute zu unterbrechen, selbst nicht besonders höflich – obwohl er argumentativ den meisten Gesprächspartnern überlegen ist.

BUZe: Findest Du es richtig, dass Organisationen wie der Zentralrat der Juden auf bedenkliche Äußerungen sofort laut und scharf reagieren? Oder meinst du, dadurch wird nur unnötig Staub aufgewirbelt? Wäre Zurückhaltung manchmal klüger?

Irina: Nein, auf keinen Fall. Es muss solche Organisationen geben, die die Juden offiziell vertreten und die auf derartige Ausfälle reagieren. Außerdem ist das doch beispielsweise nicht zu vergleichen mit der Art und Weise, wie Moslems auf die Karikaturen reagiert haben. Dagegen sind doch die Aussagen des Zentralrats gerade einmal ein paar Zeilen in der Zeitung.

BUZe: Der Staat Israel ermöglicht jedem Juden die Einwanderung und auch die israelische Staatsbürgerschaft. Fühlt man sich als europäische Jüdin letztendlich zwei Staaten zugehörig?

Irina: Ja. Das geht sicher nicht allen so, aber ich fühle mich sehr stark mit Israel verbunden. Eine großer Teil meiner Familie lebt dort. Ich habe das Land auch schon häufig besucht, kenne die Bräuche und fühle mich den Menschen nahe. Dazu kommt dieser Gedanke in meinem Hinterkopf, dass ich immer nach Israel gehen könnte, sollte etwas passieren.Wenn man sich dann allerdings die Realität anschaut: Israel ist von außen von allen Seiten bedroht, genauso auch von innen. Ein großer Teil der israelischen Bevölkerung ist arabisch, und dieser Teil wächst extrem schnell. Da stellt sich die Frage, wie lange Israel als jüdischer Staat noch weiterbestehen kann.

BUZe: Du hast den Gedanken eben schon angesprochen: Viele vor allem ältere Juden in Europa und den USA sehen Israel als eine Art letzte Sicherheit, als Zufluchtsort für den Notfall. Bist du der Meinung, dass die Bedrohung der Juden in Europa in Form eines möglicherweise wiederaufkeimenden radikalen Antisemitismus‘ geringer ist als durch weitere Kriege im Nahen Osten?

Irina: Ich verbinde das beides mit ziemlich düsteren, apokalyptischen Gedanken. Aber in den vielen Jahren, die ich jetzt in Deutschland lebe, bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass die Bevölkerung (ganz Europas) aus der Vergangenheit viel gelernt hat. Ich fühle mich hier sicher. Dies ist mein Zuhause.Aber ich kann mich noch erinnern, wie ich meine Großmutter zum ersten Mal in Israel besucht habe und sie mich stolz als ihre deutsche Enkelin den Nachbarn und Bekannten präsentiert hat. Die Leute haben mich geradezu angeschrien: Was ich dort zu suchen hätte. Was meine Eltern sich dabei gedacht hätten, mich nach Deutschland zu bringen. Sie haben mich und meine Eltern aufgefordert, sich Yad Vashem anzusehen. Das waren vor allem alte Leute.

BUZe: Heißt das, dass viele Israelis in deinen Augen ein falsches Bild von Deutschland haben?

Irina: Ja, in der Tat. Aber ich kann sie verstehen. Diese Menschen haben den Krieg teilweise miterlebt. Sie haben Geschwister im KZ verloren. Obwohl meine eigene Familie tatsächlich mehr unter Stalin gelitten hat als unter der Nazis.

BUZe: Kannst du dir vorstellen, einmal nach Israel zu ziehen?

Irina: Eigentlich nicht und auf keinen Fall aus religiösen Gründen. Ich bin in einer sehr europäischen Stadt aufgewachsen. Ich fühle mich dieser Kultur, die ich in St. Petersburg wie in Deutschland erlebt habe, zugehörig. Israel ist für mich eher ein orientalisches Land. Es ist schön, dort Urlaub zu machen und Familie und Freunde zu treffen. Ich würde auch gern ein Praktikum in Israel machen oder später einmal beruflich von Deutschland aus mit dem Land zu tun haben. Aber ich weiß, dass viele Menschen in Israel in ständiger Angst leben. Das könnte ich nicht. Vor allem nicht unter Berücksichtigung meiner Familienplanung. Zwei Cousins von mir haben gerade ihren Wehrdienst absolviert; einer davon an der Grenze zum Libanon. Ich weiß noch, welche Sorgen man sich in meiner Familie um sie machte.

BUZe: Vielen Dank für das Gespräch.


Das Interview wurde geführt von Johannes Kaufmann.

Auch an einem Interview zu Deiner Religion interessiert? Schreib uns einfach eine Mail an redaktion@buze.org

Den ursprünglichen Aufruf zu den Religionsgesprächen findest Du im Editorial zur dritten Ausgabe.


Links zum Thema:

 

Homepage von Irinas liberaler Gemeinde in Hannover.

Der Verein Jung und Jüdisch.

Internetseite des jüdischen soziokulturellen Zentrums Alexander David e.V. in der Region Braunschweig-Wolfsburg.

Internetpräsenz des Zentralrates der Juden in Deutschland - mit einer Menge Informationen rund die Jüdische Religion, jüdische Feste, Veranstaltungen etc.

 

 * Name wurde von der Redaktion geändert.