Eine andere Welt ist möglich!?
Fundierte Kritik. Unsere Vertreter hätten „gefälligst zuzuhören, was wir sagen“, forderte Herbert Grönemeyer. Was bekamen diejenigen, die dazu bereit waren, zu hören? Jeder Jeck durfte sein Steckenpferd in die Manege schicken. Tausende protestierten gegen Klimawandel, gegen den Niedergang der Geflügelwirtschaft in Kamerun, gegen Ausbeutung in indischen Steinbrüchen, gegen Hunger, gegen Gentechnik, gegen Kriege, gegen Friedensmissionen, gegen die Unterdrückung der Palästinenser, gegen Kapitalismus, gegen CO2, gegen Kernenergie, gegen Gewalt. Okay, würde ein aufmerksam zuhörender Politiker zusammenfassen, ihr seid also dagegen. Aber wofür sind die Protestierer? Da wird’s eng.
Die G8 ist ein Symbol, in das all die diffusen Ängste und Probleme projiziert werden können, die Hinz und Kunz so umtreiben. Als wäre das Problem der G8 nicht gerade die Uneinigkeit ihrer Mitglieder, die bestenfalls schwammige Kompromissphrasen zulässt, halluzinieren die Protestierer eine Gruppe von allmächtigen Lenkern und Strippenziehern herbei. Diese, so die unausgesprochene Annahme, könnten das Paradies auf Erden herbeiführen – würden sie nur endlich einmal Raffgier und Egoismus ablegen und auf die Forderungen ihrer Kritiker hören. Zwar wissen viele nicht einmal, wofür G8 steht, aber es ist längst die Chiffre für alles, was schief läuft. G8 ist eine Hausnummer in unübersichtlichen Zeiten – hier wohnt der Teufel, in dessen Fratze der Protestierer alles wiederfindet, was ihm irgendwie unheimlich ist. Der „Block G8“, ein Bündnis kirchlicher und linker Gruppen, brachte dieses simple Weltbild auf den Punkt: „Die Politik der G8 selbst ist Ursache für Hunger, Krieg und Umweltzerstörung. (…) Wir stellen keine Forderungen an die G8, sondern sagen ganz klar ‚Nein’“. Nie war es einfacher, so viel gutes Gewissen für so wenig Substanz zu bekommen.
Originalität. Da die Protestbewegung inhaltlich nicht über ein bockiges Dagegen hinauskam, musste sie über die Form der Proteste Aufmerksamkeit erregen – dies bedeutete freilich nicht, dass man nicht hinterher trotzdem über „die Medien“ wettern konnte, die angeblich die „Inhalte“ des Protests mutwillig unterschlagen hätten. In kaum einem Bericht zu den Protesten fehlten die Wörter „bunt“ und „phantasievoll“. Sicher, es braucht einiges an Phantasie, um splitternackt über ein Feld bei Heiligendamm zu marschieren und die verdatterten Polizisten im Chor anzublöken mit Parolen wie: „Wer uns anfasst, ist pervers!“ Klar, wer exzessiv den Clown als ewige Kitschfigur der Obrigkeitskritik in Szene setzt, hat sich das Etikett „bunt“ redlich verdient. Penetrant demaskierten die Clowns mit furchtbar originellen Gesten was auch immer, äfften in bunten Kostümen ihre Mitbürger in Polizeiuniform nach, bis diese peinlich berührt waren. Donnerwetter, da wurde der repressive Charakter des Systems aber mal wieder schonungslos offen gelegt! Weitere Perlen der Originalität: Sich im Volltrottelkostüm einen Wolf gegen Bush trommeln und sich danach erstmal bei McDonald’s stärken; ausgerechnet mit Sowjetfahnen in der Hand gegen Armut und Unterdrückung schreiten; guten Gewissens in einem sinnlosen Räuber-und-Gendarm-Spiel zum Zaun durchbrechen, dabei ganze Felder kaputt trampeln und sich dann über Menschen wie den Bauern lustig machen, der sagt: „Wer bezahlt mir das? Die ruinieren hier eine ganze Familie.“
Ressentiments. Wenn es schon Ausdruck edelster Gesinnung sein soll, gegen Krieg, Hunger und Armut zu sein, dann müssten eigentlich auch die Vertreter der G8 dem Lager der Guten zugerechnet werden – schließlich war es das erklärte Ziel ihres Treffens, Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Plagen zu erörtern. Doch so leicht ließen sich die Protestierer natürlich nicht hinters Licht führen und griffen lieber auf bewährte Feindbilder zurück. An erster Stelle wäre der gute, alte Antiamerikanismus zu nennen, der im US-Präsidenten eine bequeme Zielscheibe gefunden hat. Und es darf auch der Hass auf Israel nicht fehlen, der sich mangels greifbarer Repräsentanten dieses Unterdrückerstaats am deutschen Vertriebspartner des Baugeräteherstellers Caterpillar entlud. Der nämlich lieferte Maschinen nach Israel, mit denen seit 1967 „viele Menschen getötet“ und „Oliven- und Obstbäume“ entwurzelt worden seien. Wenn mit Caterpillar-Baggern eine Schule in Afrika gebaut wird, so ist dies hingegen allein Bob und Bono als Verdienst anzurechnen.
Während im Nahen Osten der Schuldige mal wieder glasklar auszumachen ist, liegen die Dinge anderswo komplizierter. Eine Regierung, die ihre eigene Bevölkerung abschlachtet, kann hunderttausende Tote in der Region Darfur natürlich nicht erklären; zum Glück gibt es Menschen, die auch hier den Überblick nicht verlieren. EU-Ratspräsident Javier Solana sagt: „Darfur ist der erste Konflikt, zu dessen Ursachen im weiteren Sinn auch der Klimawandel zählt.“ Und Bob Geldof, der mit anderen alternden Popstars bestimmt, was für Afrika gut ist, präzisiert: „Die sich ausbreitende Wüste hat mit für den Völkermord gesorgt, der jetzt schon 200.000 Tote forderte“. Und wer für den Klimawandel außer Caterpillar noch verantwortlich ist, wissen wir ja.
Paranoia. Anstatt den kakophonen Forderungskatalog der „Bewegung“ mit irgendwelchen Kapuzenbübchen auf einem Marktplatz auszudiskutieren, mauerten sich die feinen G8-Herrschaften in Heiligendamm ein – einen Großteil ihrer Energie mussten die Gipfelteilnehmer darauf verwenden, sich der aufdringlichen Gesprächsavancen abgehalfterter Rockopas zu erwehren. Mit der Abschottung fiel natürlich die Option eines direkten Angriffs auf die G8 flach, und es blieb nur noch, sich mit denen begnügen, die ihren Kopf hinhalten mussten: den Tausenden von Polizisten, die ganz versessen darauf waren, ihre Mitbürger zu provozieren und zu knüppeln.
Zwar war nur eine Minderheit der Protestler offen gewalttätig, aber darüber, dass die Polizei ein Interesse an Eskalationen gehabt und diese geschürt habe, herrschte überraschende Einigkeit. Eine Frau bei Spiegel-TV formulierte den Standardvorwurf: „Wenn da keine Polizisten gestanden hätten, hätte auch keiner Steine geworfen, und dann wär’s hier friedlich abgegangen. Also wollten die es provozieren!“ Warum kommt keiner, um solche Leute zu schütteln und unter die kalte Dusche zu stellen? Dass vermummte Hooligans, die sich ihre Munition schon aus dem Gehsteig brachen, bevor überhaupt ein Polizist in Sicht war, keine Provokation brauchten, musste man doch einfach sehen! Auch herumstehende Polizeiautos waren in der Wahrnehmung einiger Demonstranten bloß eine Falle, denn natürlich konnten viele zornige junge Männer nicht anders als im Testosteronrausch alles zu zerlegen und damit den Vorwand zu liefern, auf den die Uniformierten auf der anderen Seite so sehnsüchtig gewartet hatten.
Die Wut auf die Polizei als einzig greifbarer Repräsentantin eines imaginierten „Systems“ war neben dem alle verbindenden dumpfen Dagegen der einzige Kitt, der die Masse der diffus Unzufriedenen irgendwie zusammengehalten hat. Daher werden gern auch Vorwürfe geglaubt wie jener, ein V-Mann der Polizei habe zum Steinewerfen animiert – denn das hätten die Protestler gern! Freundlich unterstützt werden derlei Spinnereien noch von der Regierung, die es sich nicht nehmen ließ, die David-gegen-Goliath-Phantasien der Selbsterfahrungsgruppe auf dem Festivalgelände durch Tornado-Tiefflüge kräftig anzuheizen.
Die Medien, so der Vorwurf vieler Demonstranten, stürzten sich begierig auf Randaleszenen, um den gesamten Protest zu diskreditieren. Beispielhaft für diese Sichtweise steht ein Aufruf „antifaschistischer“ Gruppen zur „Solikundgebung“ am Kohlmarkt, den auch der TU-Asta verbreitete. Es gebe „Versuche von Politik, Polizei, Justiz und Medien den vielfältigen Widerstand gegen die kapitalistische Weltordnung zu spalten und zu kriminalisieren“. Zu Unrecht würden diejenigen kritisiert, die über erlaubte Protestformen hinausgingen und täten, „was sie selbst für notwendig halten, um das Treffen der G8 angemessen zu begleiten“.
Trotz solcher verdeckten Aufrufe zur Gewalt, trotz nur scheinheiliger Distanzierungen der Demonstrationsveranstalter von brandschatzenden Randalierern, trotz dümmlicher Parolen – die Protestierer kamen in den Medien gut weg. Wohlwollend wurde noch der letzte Depp mit „Bush piss off“-Plakat als origineller Weltverbesserer präsentiert. Das Magazin Medien-Monitor machte die Zunft sogar indirekt für Krawalle verantwortlich: Da die Medien sich geweigert hätten, über die Inhalte der Protestierer zu berichten, hätten diese eben nur mit Gewalt auf sich aufmerksam machen können. Künstlern wie Eytan Heller, der das Symbol des Zauns von Heiligendamm zum Anlass nahm, ein freundschaftliches Tennisspiel über die Mauer zwischen Israel und Palästina zu zeigen (das freilich von der Armee beendet wird), wurde vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk bescheinigt, vorgemacht zu haben, „dass man gemeinsam etwas bewegen kann“ – woran sich die Politiker auf der anderen Seite des Zauns ruhig mal ein Beispiel nehmen könnten. Dass alles bunt, friedlich und phantasievoll zuging, hatten wir ja schon. Da wirkt es komisch, dass in fast keiner Stellungnahme der Protestierer der Hinweis fehlt, „die Medien“ wollten ihnen Böses.
Selbstgerechtigkeit. Sich mit den komplizierten Ursachen weltweiter Probleme auseinanderzusetzen ist schwierig. Sich einen Sündenbock zu suchen und in Festivalatmosphäre mit seinen Kumpels so zu tun, als wüsste man, wie der Hase läuft und sei die Vorhut einer gerechteren Zukunft, ist einfach. Millionen junger Menschen genießen im Sommer Festivals wie Fusion, Hurricane oder Rock am Ring. Auf dem Gelände herrscht eine bierselige, enthemmte Stimmung, die einfach schön ist. Man hilft sich gern aus, jeder ist entspannt und gut gelaunt, ein Gemeinschaftsgefühl entsteht. In den Protestcamps fand all das in übersteigerter Form statt, denn was auf normalen Festivals zum kompletten Glück noch fehlt, gab es in diesen Pfadfinderlagern gratis dazu: einen äußeren Feind, gegen den man zusammenrückte und das Gewissensdoping, sich bei all dem auch noch als leuchtende Avantgarde in einer finsteren Welt fühlen zu dürfen. Auf dem Abenteuerspielplatz für junge Erwachsene wurden Wachtürmchen gezimmert, Parolen gepinselt und Bierchen gezischt. Nun müsste dieses Zusammengehörigkeitsgefühl nur noch auf die ganze Welt übertragen werden – und, na klar: Das Einzige, was dem im Wege steht, ist die G8.