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Ausgabe SoSe07 - 5
Autor Johannes Temeschinko

Vom Glück des Alters

In einem scheinbar biographischen Roman sind vor das Glück des Alters im Leben von Rosa Abramowna Masur jedoch die Jahre gesetzt, die von der Widerwärtigkeit des Lebens und der Herausforderung des Überlebens erzählen.

Das Buch des österreichischen Schriftstellers Vladimir Vertlib, dessen jüdisch-russische Herkunft als Wesensmerkmal in seiner fiktionalen Prosa durchscheint, erzählt von der nicht scheinbaren sondern ganz deutlichen Unerträglichkeit des Seins. Keine Leichtigkeit ist hier zwischen die Zeilen gewoben, keine Lebenslage wird aufgrund ihrer unfassbaren Schönheit unerträglich. Es sind im Schicksal der Rosa Masur ausschließlich die schrecklichen Dinge, die seit der Geburt in Witschi, nahe Tschernobyl im heutigen Weißrussland, ihr irdisches Dasein bestimmen. Fernab von dem, was dem heutigen Begriff der Zivilisation entspricht, ist auch gegen Ende des 19. Jahrhunderts kaum das Gedankengut der Haskalah, der jüdischen Aufklärung, ins Bewusstsein gedrungen. Somit wird das Leben der jungen Rejsele, die erst nach ihrer Aussiedlung zur ‚Rosa’ wird, bestimmt von Antisemitismus, Gewalt und Vetternwirtschaft; Randbedingungen einer archaischen Gesellschaft, in der Frauen als Haushälterin, Prostituierte oder bestenfalls in der Rolle als Mutter einen Platz zugewiesen bekommen.

Vertlib entwickelt eine facettenreiche Biographie in der Vermengung historischer Fakten mit unterhaltsamer Fiktion, indem er anhand der Figur der Mutter Rosa das Leben ihrer Familie im erst zaristischen, dann von deutschen und hernach von polnischen Truppen besetzten, anschließend bolschewistischen und schließlich postsozialistischen Russland nachzeichnet.

Zusätzlich fügt er dieser Konstellation einen schwarzen Humor in nicht eben bescheidenen Mengen bei, so dass dem Leser aufgrund des Wissens über die jüdische Geschichte im Verlauf des 20. Jahrhunderts oftmals das Lachen im Halse stecken bleibt. Obwohl „Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur“, so der komplette Titel des Buches, ein über weite Strecken uneingeschränkt unterhaltsames Buch ist, das sich flüssig an lauwarmen Winterabenden lesen lässt, will der Autor damit nicht nur unterhalten. Die vermittelte Geschichte ist dann auch zu wahrscheinlich, um als reine Prosa verstanden zu werden und lässt stets den (auto-)biographischen Kern deutlich neben die teilweise unglaublichen, wohl hoffentlich nur von der Phantasie Vertlibs beflügelten, Ereignisse in Rosas Leben treten.

Trauriger Höhepunkt in einer beklemmenden Atmosphäre ist das Leben der jüdischen Familie im stalinistischen Leningrad während der Blockade im Zweiten Weltkrieg, als Rosas Kinder die geliebte Familienkatze mit einem Hammer schlachten, um nicht selbst verhungern zu müssen. Rosa stellt sich verwundert die Frage, was der Mensch doch alles zu erdulden bereit ist, nur um sich selbst am Leben zu erhalten. Vertlib schont den Leser heutiger Tage nicht durch eine Sachlichkeit oder Schlichtheit vor einer bilderreichen Vorstellung der Zustände Russlands im Verlauf des letzten Jahrhunderts, wobei insbesondere den Jahren der beiden Weltkriege ein hohes Quantum im Verlauf des umfangreichen Romans eingeräumt wird. Dies sind schließlich auch die Jahre, deren Ereignisse Rosas Leben bis in die Neunziger Jahre bestimmen, bis sie mit ihrem Sohn Kostik, selbst schon im Rentenalter, als Kontingentflüchtling nach Deutschland ausreisen darf. Auf einer zweiten Erzählebene zeichnet Vertlib ebenso das nie endende Exil der europäischen Juden nach, die in jeder Gesellschaftsordnung stets als wahlweise Schuldige, Opfer oder Schmarotzer, aber nie als Mitmenschen angesehen werden. Insofern erzählt Rosas Lebensgeschichte simultan die Leidensgeschichte einer unprivilegierten und fortwährend benachteiligten Bevölkerungsgruppe, die in allen Staaten und unter jedem Regime gleich welcher politischen Dogmatik zu Verlierern gemacht werden. In diesem Zusammenhang ist der lange Weg der Familie Masur auch als sarkastischer Nachruf auf den real existierenden Sozialismus zu lesen – Vertlib selbst kann als Jugendlicher mit seinen Eltern aus Leningrad emigrieren – der eben doch nicht alle Menschen gleich behandelt. Ein Gutes hatte der Stalinismus dann allerdings doch: Er hat uns allen solch wunderbare Erzählansätze wie diesen beschert, denn neben allen politischen und gesellschafts-kritischen Aspekten ist Rosas cleverer Umgang mit allen Gefahren des Alltags durch Apparatschniks und Parteiideologen vor allen Dingen ganz große Literatur.

Johannes Temeschinko 

Vladimir Vertlib. Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur. dtv, 12€.