Jewgenij Samjatin: Wir
Vom Unglück der Gleichförmigkeit - „Das Wissen, das von seiner Unfehlbarkeit überzeugt ist, nennt man Glauben.“
Passend zum sozialistischen Gleichheitswahn, dass alle Tiere gleich seien, manche jedoch gleicher als andere, möchte ich in diesem Zusammenhang auf den leider in Vergessenheit geratenen Utopia-Roman „WIR“ des russischen Schriftstellers Jewgenij Samjatin hinweisen. 1920, demnach zwölf Jahre vor Huxleys beliebter Schullektüre „Brave New World“ und siebenundzwanzig Jahre vor Orwells mittlerweile in weiten Teilen europäischer Großstädte umgesetzter Big-Brother-Vision „1984“, verfasst der russische Revolutionär einen Roman, der sofort zum Bruch mit seinen ehemaligen Genossen und dem Ausschluss aus der kommunistischen Partei führt.
Samjatin lässt seinen Protagonisten D-503 zum Sprachrohr gegen die Vereinheitlichung der menschlichen Existenz werden, deren Zukunft aufgrund uniformer Lebensläufe und gleichgeschalteter Erlebnisse zum tierischen Mechanismus degradiert wird. Alle Menschen im zukünftigen Staat des einen Wohltäters, der allerdings nie näher charakterisiert wird, sind mit Nummern versehene Typen, deren Lebensinhalt in staatserhaltenden Maßnahmen besteht. R-31, der Dichter singt Lobeshymnen auf den einzigen Staat, und O-90, die Frau die D-503 mit seinem poetisch begabten Freund teilen darf, verdingt sich in der staatlichen Produktion. Gefühle werden auf rosa Billets ausgehändigt und für einen bestimmten Zeitraum in der Freizeit (sic!) toleriert; nur zur Ausübung des Geschlechtsverkehrs dürfen die Bewohner der gläsernen Wohnsilos die Vorhänge herunter lassen.
Dummerweise greift der einzige Staat, gemeint ist hiermit das bolschewistische Russland nach dem Zarensturz, buchstäblich nach den Sternen, denn in einer Rakete sollen Zeugnisse der überlegenen menschlichen Zivilisation ins All geschossen werden. D-503, der als Ingenieur die Arbeiten am ‚Integral’ – bezeichnenderweise hat nur die Rakete einen Namen – überwacht, beginnt jedoch eines Tages an der Unfehlbarkeit seiner Arbeit, sich selbst und nicht zuletzt der Organisation des Staates zu zweifeln. Dieser permanente, gleichsam cartesische Zweifel wird bei ihm als Seele diagnostiziert; ein Rudiment der Evolution, das seit Jahrhunderten als nicht funktionabel gilt. Sein Zustand verschlechtert sich in zunehmendem Maße der Menschwerdung, was durch die Bekanntschaft mit der ominösen I-330 verstärkt wird. Es gibt in jenem Staat, der alles ist, wobei der Einzelne ein Nichts bleibt, eine Widerstandsbewegung, und ihr Verhältnis zu dieser Gruppe fasziniert D-503. Eine Gruppe Aufständischer, die Kontakt zu den ‚Wilden’ hinter der Grünen Mauer pflegt, plant den Einzigen Wohltäter am Tag seiner per Akklamation durchzuführenden Wiederwahl zu stürzen, und benötigt dabei die Unterstützung des Konstrukteurs.
Samjatin schreibt in Tagebuchform eine Parabel auf die Oktoberrevolution, die sich selbst als Allheilmittel der gesellschaftlichen Probleme vermittelt, ohne zu bedenken, dass die Anzahl der Revolutionen unendlich ist und sein wird. Jede Gruppierung, die von der Gunst der Geschichte in ihrem Verlauf an die Macht gespült wird, findet sich unverzüglich mit einer Gegenbewegung konfrontiert, die ihrerseits eine Reformation betreibt. Während Huxley und Orwell, beide orientieren sich maßgeblich an der Erzählung von „WIR“, einerseits den Zustand der kapitalistischen Rationierung und gesellschaftlichen Umverteilung beziehungsweise den Totalitarismus als Regierungsform zum erklärten Feindbild haben, richtet sich Samjatin in wesentlich einfacherer Weise gegen jegliche Übersteigerung der postindustriellen Gesellschaft. Die Zwangsgemeinschaft von „WIR“ vermittelt den Eindruck, als sei der Totalitarismus der notwendige politische Ausdruck der technisierten Welt, und mit Einschränkung gibt ihm der Verlauf des 20. Jahrhunderts darin Recht.
Der aufgrund dieses Buches verbannte Schriftsteller Samjatin liefert mit „WIR“ die Blaupause für jeden utopisch relevanten Roman der kommenden Jahre, der die Frage nach der Freiheit des Einzelnen und der Verantwortung des Staates stellt. Somit ist es auch heute im Zeitalter von Gentechnik, Leitkulturdebatten und politisch-religiösen Glückseligkeitsversprechen noch immer ein Leuchtturm in der Spätphase des postindustriellen Dienstleistungskapitalismus.
Johannes Temeschinko
"Wir", Kiepenhauer & Witsch, 1984, 224 Seiten, EUR 8,95, ISBN: 3462016075