Studentenleben - Morgenstund...
Erbarmungslos reißt mich das schrille Klingeln des Weckers aus meinen Träumen von Studienabschlüssen mit Auszeichnung und Doktorandenstipendien. 6.30 Uhr. Verdammt, ich bin Geisteswissenschaftler. Warum muss ich mittwochs zu dieser unmenschlichen Zeit aufstehen? Gibt es keine Gesetze gegen so etwas? Wo bleibt der AStA, wenn man ihn mal braucht? Das Bett ist warm, der Boden ist kalt, und draußen ist es noch stockdunkel. Nicht einmal einen HiWi würde ich dort rausjagen.
Alles Gründe, sich umzudrehen und weiterzuschlafen. Was war nochmal der Grund dafür, dass ich heute so früh raus muss? Ach ja, dieser unsägliche Französischkurs. Sprachkurse zu diesen Zeiten gehören verboten. La tristesse durera toujours. Da sitze ich doch sowieso wieder nur komatös in einer Runde verschlafener StudentInnen, stiere lethargisch in mein Buch und träume von Kaffeetassen, die im Sonnenschein tanzen. Hin und wieder halte ich mich vom vollständigen Wegdämmern ab, indem ich einige abgehackte französische Wörter radebreche, in dem Versuch einen halbwegs verständlichen Satz hervorzubringen. Warum mache ich das überhaupt? Ich mag die Sprache nicht einmal. Im Gegenteil, sie ist so... französisch: Die Grammatik existiert eigentlich nur auf dem Papier. Gesprochen ist es für meine Ohren ein völlig unverständliches Kauderwelsch, ein einziger Brei aus verschiedenen Lauten, der träge aus dem Mund meiner Lehrerin hervorquillt und aus dem ich mit Mühe einzelne Vokabeln herausfiltern kann. Wer braucht schon Französisch? Wen interessieren Franzosen? Die hatten ihre Zeit – vor 200 Jahren.
Ach ja, das ist ja das Problem. Wer neuere Geschichte studiert, sollte des Französischen mächtig sein. Vor allem, wenn man hofft, nach dem Studium einmal selbst an der Uni zu lehren.
„Sie haben ausgezeichnete Referenzen, Herr Kaufmann. Ihre Doktorarbeit ist formidabel und international hoch angesehen. Ich würde sagen, der Lehrstuhl gehört ihn... oh, ich sehe, sie sprechen kein Französisch. Bedaure, wir können sie nicht brauchen. Versuchen sie’s doch mal als Taxifahrer. Irgendwo im Osten, da gibt es kaum Franzosen.“
So läuft das doch. Wer nicht mindestens 82 (oder 4 mal 20 plus 2, wie der Franzose sagen würde) Sprachen und/oder Dialekte beherrscht, bekommt keinen Job, wird arbeitslos, arm, obdachlos, einsam, krank – tot.
Andererseits kann ich den Kurs ja auch noch im nächsten Semester machen. Na gut, das wäre dann der dritte Versuch, aber in Latein I sitzen bekanntlich auch regelmäßig Studenten, die vier bis fünf Anläufe brauchen. Überhaupt würde ich die Klausur sowieso nicht bestehen. Hab ja viel zu viel zu tun. Besser im nächsten Semester von Vorn beginnen. Dann aber richtig. Trotzdem hingehen wäre doch Zeitverschwendung. Da kann ich mich genauso gut noch einmal umdrehen. Vielleicht träume ich ja wieder von meinem Doktorandenstipendium. Fürs Träumen braucht man ohnehin kein Französisch.
Bei "Studentenleben" handelt es sich um eine offene Kolumne. Wer also Lust hat, unseren Lesern eine amüsante Episode aus seinem Alltag zu erzählen, melde sich einfach bei uns.