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Kategorie Internationales
Ausgabe SoSe08 - 9
Autor Frank Jäger

Über Tische und Bänke - Unterstützung einer Grundschule in Hoogly, West Bengal, Indien

Zwischen der deutschen und der indischen Arbeitswelt herrschen einige Unterschiede vor. Einer ist der geringere Effizienzdrang auf dem Subkontinent. Dies führt dazu, dass man jeden Tag ruhige Minuten zum Zeitunglesen findet. Ähnlich wie in Deutschland gibt es auch hier eine Hand voll präferierter Tagesblätter, die prinzipiell auch alle gleichartig gegliedert sind. Dem Sportteil kommt dabei auffällig viel Platz zu. Die Schlagzeilen werden jedoch nicht vom schwarz-weißen Rund dominiert, sondern vom Cricket, oftmals gar auf der Titelseite. Gleichwohl kommt kein Metro-Passagier Kolkatas an den ständig propagierten Höhepunkten des Fußballs vorbei: "What a magnificant finish by Klinsmann!".

Aufgrund mangelnden Verständnis' für dieses ursprünglich britische Vergnügen sondiere ich solche Artikel aus und finde Interessanteres. Beispielweise einen Bericht über eine Grundschule auf dem bengalischen Lande, die weder über Tische noch Bänke für die wissbegierigen Kleinen verfügt. Folglich bleiben viele Kinder zu Hause, sobald es kälter wird. Der Artikel verriet nicht nur die Anzahl der potentiell unterkühlten Schüler, sondern auch das geschätzte erforderliche Investment. Nach kurzer Kalkulation komme ich zu dem Schluss, dass es für einen Deutschen ein Leichtes ist, diesen Mangel zu beseitigen, ob nun allein oder mit Hilfe von Freunden und Familie.

Howrah, Kolkatas Schwesterstadt westlich des Hooghly Rivers, beherbergt den gleichnamigen Bahnhof, dessen tausendfaches Gewimmel erst einmal bezwungen werden will. Nachdem ich mich mit verschiedensten Versionen von Auskünften für einen der Local Trains entschieden habe, finde ich mich in einem überfüllten Abteil wieder, in dessen nicht vorhandenen Eingangstüren der Fahrtwind verwegen durch indisches Haar stürmt. Der nicht enden wollende Strom von Verkäufern lässt mich eintauchen in die provisorische Schienenküche Indiens. Tipp: Die frisch geschälten und gewürzten Gurken sind in der Prämonsunzeit sehr willkommen.

Als ich in der im Zeitungsartikel erwähnten Ortschaft ankomme und der Zug außer Hörweite ist, haut es mich fast aus den Socken: die Abwesenheit des gewohnten Verkehrslärms und der elenden Luftverschmutzung, als befinde man sich plötzlich unter Wasser. Die Feuchtigkeit unter meinen Armen ist jedoch keiner erquickenden Oase zu verdanken, sondern der drückenden Hitze.

Weiße Haut ist hier so selten wie schwarze. Drum braucht es nicht lange, bis ein neugieriger Junge mit viel zu großem Fahrrad das perfekte Transportmittel bietet. Ohne zu zögern überlässt er mir die Drahtkuh und nimmt bereitwillig seinen Platz auf der Mittelstange ein. Seine Orts- und Sachkundigkeit (das Wort "School" kennt man sichtlich auch im Bengalischen) bringen mich tatsächlich zu einer Grundschule (ohne Tische und Bänke). Ich muss mich jedoch belehren lassen, dass sich die Schule meines Begehrs in einem der umliegenden Dörfer befindet. Schnell reift in mir die Erkenntnis, dass sich hier alle Schulen mit demselben Problem konfrontiert sehen.

Dort treffe ich auf einen Lehrer einer weiteren Schule (ohne Tische und Bänke). Es wird mir langsam unangenehm, die Hilfsbereitschaft in Anspruch zu nehmen, ihren dezenten Hinweisen auf die Tatsache, dass auch ihre Schule Hilfe benötigt, jedoch mit Beharren auf eben jene im Artikel erwähnte Schule zu begegnen.

Nach einem langen Tag, nach zwei mittellosen Schulen stehe ich vor der Auserwählten, umgeben von einer Traube neugieriger Leute. Die Sonne taucht die Umgebung in erhabenes Abendlicht. Ich widerstehe nur schwerlich der Verlockung, das Gold-Grün mit meiner Kamera festzuhalten. Eigentlich ist die Schule bereits aus, eine Handvoll Wissensdurstiger klebt jedoch noch an den Lippen eines Privatlehrers (auf dem Boden sitzend), freilich nur bis ich die Bühne betrete.

Mit der Nummer des Schulleiters im Gepäck breche ich auf, begleitet von einer Lehrergruppe. Unsere schrottreife Auto-Rikscha überquert eine Bambusbrücke über einen mit Fischerbooten garnierten Fluss, passiert das dazugehörige Wegezollholztor und holpert über das Kopfsteinpflaster des hiesigen Marktes. Am Bahnsteig angekommen überbrückt einer der Lehrer die Wartezeit, indem er mir von einem Jungen im Dorf berichtet, der dringend eine Offen-Herz-OP benötigt, für deren Finanzierung natürlich die Mittel fehlen. Dies sei auch eine noble, wenn nicht sogar vorzuziehende Gelegenheit für mein Engagement.

Im Zug (keine Tische, dafür Bänke) grüble ich über diese moralisch schwierige Frage. Einem Jungen vermutlich das Leben retten oder 122 Kindern einen dauerhafteren Schulbesuch ermöglichen? Trotz meiner Anfälligkeit, mich leicht überzeugen zu lassen, fälle ich meine Entscheidung: Tische und Bänke.

Nach einem Treffen mit dem Schulinspektor des Distrikts habe ich einen Lehrer der Schule als Mittelsmann an der Hand, der Angebote von Schreinern einholen und einen Termin für ein Treffen organisieren soll. Der Inspektor steckt mir auch, warum gerade diese Schule im Telegraph auftauchte: Sie liegt in einem Gebiet, das wohl massiv von der Vogelgrippe befallen war, schien den Journalisten dann aber doch mehr zu faszinieren als die Tötung von Federvieh.

In der Zwischenzeit muss ich meine Abwesenheit am Arbeitsplatz erklären und komme somit nicht darum herum, von meinem Vorhaben zu berichten. Eine junge Kollegin gibt zu bedenken, dass man hier in Indien kaum jemandem trauen kann und dass meine Gutgläubigkeit nicht mit Erfolg gekrönt werden wird. Ein Senior Manager bekleidet sich ebenfalls mit Skepsis: Dies sei kein guter Weg zu helfen. Dennoch, meine besagte Anfälligkeit bleibt stumm.

Im recht großen Anwesen des ältesten und renommiertesten Tischlers am Ort sehe ich mich, begleitet vom Assistent Teacher der Schule, einem von meinem Plan recht begeisterten Brüdergespann gegenüber. Frohlockend führt mich einer von ihnen durch die Produktionshütten und zeigt mir auch das Material, auf dem die kleinen Inder lernen sollen. Mit der Einsicht, dass es für mich wohl unmöglich ist, einen akzeptableren Deal auszuhandeln, und des Tischlers angeblicher Motivation, auf den Gewinn zu verzichten, kommen wir ins Geschäft. Wo gehobelt wird, fallen eben Späne. Das Angebot, meinen Namen eingravieren zu lassen, lehne ich freilich ab.

Punkt 10 Uhr. Während Tischler Ghosh über das Wesen der deutschen Pünktlichkeit staunt, staune ich über Tische und Bänke, deren Qualität meine Erwartungen übertrifft. Robust, simpel, schick schmieden sie sich aneinander verteilt auf zwei LKWs. Vor meinem inneren Auge spielen sich dramatische Szenen ab: Zwei LKWs stürzen von einer überforderten kleinen Brücke in einen Fluss. Treibholz.

Als wir die Jhero Krittibas Primary School erreichen, beginnen die eigens engagierten Arbeitskräfte damit, die Tischlein und Bänklein in das Schulgebäude zu bringen, das immer noch wie angefangen und nicht beendet wirkt. Zumindest gibt es verschließbare Türen, was meine Befürchtung, jemand könnte das neue Gehölz des Nachts entwenden, zu Paranoia degradiert. Offensichtlich herrscht momentan kein Unterricht: Die kleinen Schüler scharen sich schüchtern in Gruppen auf dem Hof.

Während das Entladen voran geht, brodelt bereits das Mittagessen in der kleinen Küche der Schule: Reis mit Kartoffeln in Soße. Schnell noch das 'Vorherfoto', und schon sitzen zig Grinsebacken vor mir (an Tischen und auf Bänken). Mission accomplished. Mr. Ghosh, durch seinen Gewinnverzicht, seine pünktliche Produktion und hervorragende Logistik nicht ganz unbeteiligt, scheint auch zufrieden. Dem angereisten Journalisten gelingt es, mich mit den Kindern vor die Kamera zu zwängen. Ich gebe ihm jedoch eindeutig zu verstehen, dass weder mein Gesicht noch mein Name in einem möglichen Artikel auftauchen dürfen. Mit einem ausweichenden, um nicht zu sagen unsympathischen Lächeln stimmt er zu. Ich habe meine Zweifel an seiner Integrität.

Zumindest wird diese Story nicht das Cricket von der Titelseite verdrängen. Vielleicht sucht aber jemand nach Interessanterem. Vielleicht bleibt ein Leser an einem Artikel über Tische und Bänke hängen, in dem vermutlich, nein, sicherlich mein Name stehen wird. Eigeninteresse kann mir Mr. Ghosh aber nicht attestieren, als wir am Bahnhof auf den Zug nach Kolkata warten, wohingegen er als Inder durchaus seine Verpflichtung sieht als Teil seiner Gesellschaft. Ich widerspreche ihm, auch ich war nicht ganz uneigennützig: Das Wohlergehen meiner Mitmenschen ist etwas Unterstützenswertes, ob nun in meiner Gesellschaft oder in Indien. Um den Artikel aber nicht all zu pathetisch enden zu lassen, muss ich diesen innenarchitektonischen Exkurs in seiner Wirkung sicherlich relativieren. Und doch war es eine Erfahrung für mich. "Adel" mag zwar nicht zwingend verpflichten, kann jedoch eine Menge Holz ins Rollen bringen.