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Ausgabe WS0708 - 7
Autor Johannes Temeschinko

Die Beschissenheit der Dinge

Immerhin, kann man noch darüber schreiben, können die Dinge so beschissen nicht liegen. Nur die schiere Verzweiflung (oder der Hunger) machen den Schriftsteller sprachlos. Dimitrieken, Kosename des Erzählers Dimitri, verzweifelt überhaupt nicht. Obwohl er in seinen autobiographischen Erzählskizzen wahrlich allen Grund dazu hätte. Von seiner Mutter, die er selbst als eine Hure bezeichnet, schon in frühester Kindheit verlassen, wächst er, „nachdem ich eine Pflegefamilie in den Wahnsinn getrieben hatte“, bei seiner Großmutter auf.

Dieser Umstand wirkt in Zeiten des durchs Feuilleton gereichten Prekariats auch diesseits der deutsch-belgischen Grenze nicht weiter nach. Allein der Umstand, dass die Kinder der Oma ebenfalls noch alle zu Hause wohnen, liefert Dimitrieken reichlich Gesprächsstoff, um in sarkastischer Art und Weise seinen Lebensweg zu (be-)schreiben. So haust er unter einem Dach mit einer senilen Frau im sehr fortgeschrittenen Alter, zusammen mit ihren vier Söhnen, von denen einer sein Vater sein soll – die anderen sind Onkel von soundsovieltem Grade. Unerwähnt darf der Umstand ihres kontinuierlichen Alkoholkonsums nicht bleiben, ziehen sich doch gerade daraus die Ansätze seiner Anekdoten und abstrusen Überlegungen.

Zwischen Gerichtsvollzieher, Kneipenschlägerei und den unregelmäßigen Besuchen der Jugendamtssachbearbeiterin Nele Fokkedey erlebt Dimitri eine eindrucksvolle, schöne Kindheit, in der allerdings Schulbesuche und Spielen mit Gleichaltrigen nur als Randerscheinungen auftreten. Angefüllt mit Weltschmerz und schwarzem Humor beschreibt er, mittlerweile erwachsen und dem bildungsfernen Sumpf seines Heimatdorfes entwachsen, verschiedene Episoden, die zusammenhangslos nebeneinander stehen und untereinander keinerlei Bezug nehmen. Quasi das perfekte Buch für eine private Auszeit von Uni-Veranstaltungen jeglicher Art. Ein snickersmäßiger Kurzurlaub ohne Erdnüsse.

Mit der Verzweiflung des Außenseiters beschreibt Dimitrieken seine ersten Erfahrungen mit Alkohol, den Frauen und dem daraus resultierenden Nachwuchs, wobei sein Hang zum drastischen Sarkasmus bisweilen mit ihm durchgeht. Da er alles andere als freudig seinen Nachkommen erwartet, philosophiert er im Krankenhausflur wartend, welche Optionen sich als möglich erweisen und kommt zu dem Schluss: „Das Beste, was mir passieren konnte, war, dass mir gleich ein kleiner Mulatte in die Arme gelegt wurde, von einer mitleidigen Schwester mit traurigem Blick [...] Betrogensein, hatte das je einer so sehr gewünscht wie ich?“

Sich seine, nüchtern (sic!) betrachtet, doch eher entbehrungsreiche Vergangenheit von der Seele zu schreiben, bedeutet für den jungen Mann, überhaupt erst mal in seinem Leben eine Perspektive zu erlangen, die nicht lediglich auf den nächsten Vollrausch in der Stammkneipe abzielt. Immerhin widmet er dem kurzfristig erfolgreichen Entzug seines Vaters ein ganzes Kapitel. Im darauffolgenden Rückfall offenbart sich die armselige Perspektivlosigkeit seiner Herkunft, und als Leser schwankt man beständig zwischen Schadenfreude, Erschrecken vor und Mitleid mit dem Jungen. Ähnlich wie bei Charles Bukowski ist auch in „Die Beschissenheit der Dinge“ das Saufen – und etwas anderes ist es nicht – Auslöser und Endpunkt jeglicher Erzählung. Aus der Tragik dieser Ausgangslage und dem voyeuristischen Blick in eine Subkultur des Trinkens als Lebensinhalt zieht der Roman seine Kraft, die zotige Sprache des Milieus von Dimitris Verwandtschaft wunderbar einfangend. Auf der anderen Seite scheitert der Autor durch den Erfolg seiner Befreiung in gewisser Weise an den Ansprüchen seiner Kaste und sieht sich am Ende selbst jenen Eierköpfen und bürgerlichen Intellektuellen zugehörig, für die seinesgleichen nichts als Verachtung übrig haben, nachdem sie es sich in ihrer Parallelkultur gemütlich gemacht haben. Dieses Dilemma kann Dimitrieken letztendlich auch nicht aufheben, doch ihm beim Versuch über die Schulter zu gucken, bereitet schon viele Lacher – immer mit dem schlechten Gewissen, dass sie auf Kosten von Leuten kommen, die mehr Hilfe als Spott nötig hätten. (Die anzunehmen sie wiederum zu stolz wären).

Johannes Temeschinko


Dimitri Verhulst. Die Beschissenheit der Dinge. Luchterhand, 8€.