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Ausgabe SoSe06 - 2
Autor Nico Dorn

„Über Guantánamo ist alles gesagt“

Roger Willemsen spricht mit ehemaligen Häftlingen

Wer spricht eigentlich über Guantánamo? Seitdem die USA Anfang 2002 auf ihrem kubanischen Marinestützpunkt Guantánamo Bay mehrere Gefangenenlager speziell für Kriegsgefangene aus Afghanistan einrichteten, sind diese ununterbrochen in der Diskussion. Ein Skandal jagt den nächsten. Ob es um Verhöre unter Anwendung von Folter, Schändung des Korans oder das zweifelhafte rechtliche Konstrukt der "illegal combatants" geht – jede solcher Meldungen eignet sich dazu, heftige Kritik und (mitunter) zynische Entgegnungen zu provozieren. So kommentierte Colleen Graffy, eine Sprecherin der US-Regierung, die Selbstmorde von drei Inhaftierten mit dem denkwürdigen Satz: „Die Selbstmorde sind ein guter PR-Gag, um Aufmerksamkeit zu erregen.“ Derartige Entgleisungen rufen natürlich heftige Gegenreaktionen hervor. Und so dreht sich der Kreisel weiter und weiter: Guantánamo bleibt im Blickpunkt, Guantánamo bleibt im Gespräch. Doch wer spricht eigentlich über Guantánamo? Es ist tatsächlich auffällig, dass jeder willens und in der Lage scheint, einen Kommentar über das Skandallager abzugeben. Die Betroffenen, die nach Kuba verbracht wurden, kommen allerdings nur selten zu Wort.

Angesichts dieser Tatsache machte sich der Publizist Roger Willemsen auf die Suche nach ehemaligen Guantánamo-Häftlingen. Ein Afghane, ein Jordanier, ein Palästinenser und zwei Russen; ehemals Botschafter der Taliban, Gewürzhändler, Religionslehrer, Ingenieur und Unternehmer; fünf Männer, die längere Zeit in Guantánamo waren, erklärten sich bereit, interviewt zu werden. Die Gespräche hat Willemsen jüngst unter dem Titel Hier spricht Guantánamo veröffentlicht. In den fünf Interviews interessiert er sich aber keineswegs nur für die Erlebnisse der Männer im Lager selbst, was der Titel ja vermuten lässt. Auch die Lebensgeschichte vor ihrer Festnahme, die Festnahme selbst und der mitunter lange und qualvolle Weg nach Guantánamo werden thematisiert. Gerade weil die Interviews sich nicht nur auf die Erlebnisse im Lager fokussieren, erfährt man viel über die persönlichen Erfahrungen und Überzeugungen dieser fünf Menschen, aber auch über die Muster, wie sie zu mutmaßlichen Terroristen wurden. Gleichsam en passant fällt dann auch noch ein Schlaglicht auf Skandale, die in unseren Medien kaum wahrgenommen werden: so zum Beispiel auf das Gefangenenlager im afghanischen Bagram, in dem unsägliche Zustände herrschen sollen. Die Ergiebigkeit der Gespräche ist allein Willemsen zu verdanken. Er bringt die Ex-Häftlinge zum Reden, zum Erzählen ihrer Geschichten, sodass schließlich mehr als neunzig Prozent des Buchs allein ihnen gehören. Willemsen selbst bleibt im Hintergrund. Er fungiert als Wegweiser, gibt die Richtung vor. Was seine Interviewpartner ihm dann über ihren Weg erzählen, bleibt ihnen überlassen. Hartnäckiges Nachhaken ist Willemsens Sache nicht. Dafür umso mehr ein scheinbar grenzenloses Einfühlungsvermögen in das Denken seines jeweiligen Gegenübers.

Die Stärken und Schwächen von Willemsens Ansatz treten im Interview mit Abdulsalam Daeef, Botschafter der Taliban in Afghanistan, exemplarisch zu Tage. Denn allein durch Einfühlungsvermögen, Offenheit und dem daraus resultierenden Vertrauen vermag er es, sein Gegenüber zum Sprechen zu bringen. Durch diese Herangehensweise beraubt Willemsen sich aber zugleich der Möglichkeit, seinen Gesprächspartner mit abweichenden Meinungen zu konfrontieren. Und das erscheint durchaus nötig, kann man Daeef doch mit gutem Gewissen als eine Stütze des verbrecherischen Regimes der Taliban bezeichnen. Das Vorgehen Willemsens müsste man bedauern, ginge es ihm bei seinen Interviews um ein unterkühltes Wissenwollen, ginge es ihm um eine faktenschwangere Dokumentation dessen, was man für wahr halten soll und kann. Für ihn steht aber im Vordergrund, einen Raum zum Reden zu schaffen. In dem sollen die ehemaligen Gefangenen frei und ohne persönlich angegangen zu werden, ihre Geschichte so darstellen können, wie sie sie erzählen wollen – und nicht so, wie sie sie erzählen sollen. Denn, so Willemsen, „über Guantánamo ist alles gesagt. Bis auf das, was die Häftlinge zu sagen hätten.“

Letztlich wird diese Schwäche der Interviews zugleich zu einer ihrer Stärken. Denn sie macht nicht nur eine kritische Haltung des Lesers gegenüber dem Erzählten nötig. Sie zeigt auch, dass Meinungen auf Wahrnehmungsmustern beruhen, die unter anderem von einem spezifischen kulturellen Umfeld geprägt sind. Dass die Guantánamo-Häftlinge in ihren orangefarbenen Overalls symbolisch als Todeskandidaten gebrandmarkt wurden, haben die fünf Interviewten so überhaupt nicht wahrgenommen. Die symbolische Bedeutung der Farbe Orange im amerikanischen Justizwesen war ihnen schlicht unbekannt. Umgekehrt dürfte es für die Aufseher des Lagers unverständlich gewesen sein, warum die Gefangenen durchweg den Wunsch äußerten, sich ihre Schamhaare rasieren zu dürfen. Von solchen religiös begründeten Vorschriften hat man dort noch nie gehört. Alles in allem sind die Interviews lesenswert, erhellend und, wie ich denke, auch wichtig. Da aber manche Aussagen frag-würdig bleiben, sollte man sich seiner Fähigkeit zum kritischen Nachdenken über das Gelesene auf jeden Fall bedienen. Das fällt angesichts der mitunter bestürzenden Details jedoch alles andere als leicht.

 


Hier spricht Guantánamo: Roger Willemsen interviewt Ex-Häftlinge Zweitausendeins, Frankfurt am Main, 240 S., 12,90 €