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Kategorie Studentenleben
Ausgabe WS0607 - 3
Autor Johannes Kaufmann

Studentenleben - Vom Zauber trivialer Tätigkeiten

„Der 2. Weltkrieg als Rundfunkkrieg: Organisation und Inhalte der Rundfunkpropaganda 1939-1945 am Beispiel Deutschlands und Großbritanniens“ steht in fetten Lettern in dem Brief, der mich vor zwei Monaten über meine Zulassung zur Examenshausarbeit informierte. Seitdem hat sich viel getan: In meinem Zimmer stapeln sich die Bücher und in meinem Kopf die Fragen. Nach einigen Tagen – oder eher Wochen – in denen ich es ‚ruhig angehen ließ‘, ist mittlerweile die Phase leicht hysterischer Geschäftigkeit eingetreten, und mit ihr kam ein wundersamer Wandel der Wahrnehmung: Auf einmal sind die trivialsten Tätigkeiten vom zarten Schleier des Unterhaltsamen umschmeichelt. Beim Blick auf mein Bücherregal kommt mir der Gedanke, daß man all die schönen Bücher ja eigentlich endlich mit dem persönlichen Ex Libris-Stempel versehen und danach wieder alphabetisch nach Autoren sortieren könnte. Und bei Büchern des gleichen Autors? Alphabetisch oder nach Erscheinungsdatum der ersten Ausgabe? Auf jeden Fall muß ein neues Regal her für die vielen Neuanschaffungen. Also ab zu Hornbach. Im zauberhaften Schein der Neonröhren und der romantischen Umgebung monumental aufgestapelter Werkzeuge, Farbeimer und Energiesparlampen entscheide ich mich spontan, gleich zwei Regale zu kaufen. Im Wohnzimmer muß schließlich dringend ‘was gemacht werden‘. Zu Hause werden die Regale sogleich aufgebaut, Fernseher und DVD-Player umplaziert, Pflanze obendrauf, dann alle Bücher von den Brettern, Staubwischen, Stempeln, neu Einsortieren – schon ist ein ganzer Tag rum; wie war das mit der Rundfunkpropaganda? Morgen!


Nach dem morgendlichen Ausdösen im wohlig-warmen Wasserschauer fällt der Blick auf die verunstalteten Füße: Dieser Knubbel gehört da doch nicht hin. Also flugs beim Orthopäden angerufen – das wurde sowieso langsam Zeit – und einen Termin ausgemacht. Wieder ist ein Nachmittag dahin, und wenn man dann geschafft zu Hause ankommt, kann man sich ja nicht gleich zurück an die Arbeit setzen. Außerdem müßte unbedingt mal wieder geputzt werden. Dabei kann man auch endlich das neue ganz legal heruntergeladene Blind Guardian-Album hören. Apropos, müßte ich nicht noch meine E-Mails checken? Nur mal schnell den Rechner hochfahren und das Nötigste erledigen. Wenn man schon dabei ist, kann man den Idioten im Focus-Online-Forum ja auch noch schnell die Welt erklären. Oh, der Artikel des Tages bei Wikipedia behandelt die autokephale orthodoxe Kirche von Albanien, wie interessant. Hätte nie gedacht, daß der albanische Klerus 1912 eine Vereinigung Südalbaniens mit Griechenland angestrebt hat. Damals war man natürlich noch nicht autokephal, versteht sich.


Plötzlich werden die sinnlosesten und profansten Tätigkeiten reizvoll. Neulich habe ich mir sogar auf Phoenix zwei Stunden Bundestagsdebatten angesehen. Das ist fast so, als würde man sich versehentlich bei James Joyces „Ulysses“ festlesen. Nicht auszudenken, wenn ich was verpasst hätte.


Diese seltsame Veränderung in Lenrphasen wäre doch ein lohnenswertes Forschungsthema für die Wahrnehmungspsychologie. „Warum wird da nicht mal etwas erfunden“, fragt die Frau in der Waschmittelwerbung und hebt anklagend die fleckige Tischdecke, die aussieht, als wäre der Gänsebraten explodiert und hätte dabei auch gleich die Weinflasche massakriert, in die Kamera. Es folgt der naheliegende und völlig berechtigte Hinweis auf die Weltraumforschung. Obwohl die lustigen Michelinmännchen von der NASA immer in blütenweißen Anzügen durch den Weltraum trudeln. Anscheinend wurde da bereits etwas erfunden, aber die Amerikaner halten es vor uns verborgen. Das ist genau wie mit Pearl Harbor und dem 11. September...


Aber ich schweife ab. Was mich wiederum zurück zum Thema schweifen läßt: Gerade teilt Goebbels seinen Lakaien die neuesten ‚Sprachregelungen‘ für den Rundfunk mit, da frage ich mich, wie der Herr Propagandaminister es eigentlich geschafft hat, so diszipliniert und akribisch Tagebuch zu führen. Hatte er nichts, das ihn ablenkte, nicht einmal eine Ausgabe von „Ulysses“ in guter altdeutscher und unleserlicher Frakturschrift?


Es ist ja nicht so, als würde mich mein Examensthema nicht interessieren. Im Gegenteil, meinen Träumen nach zu urteilen, würde ich gern mit Reichssenderleiter Hadamovsky bei einem Glas Batteriesäure über Hetzreden im Radio debattieren, während der GröFaZ im Hintergrund meine Bücherregale einsortiert – streng alphabetisch natürlich. Aber irgendwie ist plötzlich alles spannender, interessanter, unterhaltsamer, jede Abwechslung willkommen: Meine Freundin kommt nach Hause und fragt mich: „Wollen wir vielleicht...“

„Gilmore Girls?“, unterbreche ich sie, „hab eigentlich keine Zeit, aber leg schon mal die DVD ein“. Ob sie nicht vielmehr eigentlich einen gemeinsamen Einkauf vorschlagen wollte, werde ich wohl nie erfahren. Jedenfalls haben wir jetzt keine Milch mehr.


Jede Gelegenheit zur Ablenkung wird genutzt. All die Dinge, die schon längst hätten erledigt werden müssen, werden in Angriff genommen, Internetforen frequentiert, alte Freunde in Spanien, zu denen der Kontakt abgebrochen ist, angeschrieben etc..


Aber das hat jetzt ein Ende. Die Zeit wird knapp und die Arbeit nicht weniger. Frisch ans Werk, es geht immerhin um den Abschluss. Andererseits steht da noch immer „Ulysses“ im Regal...