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Kategorie Politik
Ausgabe WS0607 - 3
Autor Johannes Kaufmann

Nutzlose Forschung? Vom Sinn der gebeutelten Geisteswissenschaften

Befinden sich die Geisteswissenschaften in der Krise? Ein oberflächlicher Blick auf die Universitäten in Deutschland scheint diesen Eindruck zu bestätigen. Überall muss gekürzt werden, und meistens trifft es die Geisteswissenschaften besonders hart. An unserer TU kämpfen Philosophie und Geschichte längst ums nackte Überleben, in der Germanistik fällt es schwer, ein zufriedenstellendes Lehrangebot aufrecht zu erhalten.

Knapp zwei Millionen Menschen studieren zur Zeit in Deutschland. Bis zum Jahr 2014 sind 2,7 Millionen angestrebt, denn wir haben zu wenig Studierende, so heißt es aus der Politik. Diese Steigerung der Studierendenzahlen ist aber ohne die Geisteswissenschaften nicht erreichbar, denn nicht nur, dass junge Menschen auch heute noch ‚nutzlose‘ Fächer studieren wollen (2004 entschied sich fast ein Viertel aller Erstsemester für ein geisteswissenschaftliches Studium), sie entlasten damit auch die Finanzen der Hochschulen durch eine vergleichsweise preiswerte Ausbildung. Eine Professur in theoretischer Philosophie kostet im Jahr im Schnitt 267.000 Euro weniger als eine Professur für Verfahrenstechnik. Nicht auszudenken, wenn die angesprochenen 2,7 Millionen tatsächlich wie erhofft alle Maschinenbau studieren würden.

Trotzdem werden vor allem in den Geisteswissenschaften Stellen abgebaut: Kamen 1999 noch 75,3 Studierende auf jeden Prof., so waren es 2003 bereits 93,7.


Wie kommt es zu diesen Diskrepanzen? Geisteswissenschaftler stehen unter einem ständigen Rechtfertigungsdruck: Hat die Gesellschaft von ihren Forschungen irgend einen Nutzen? Sind sie irgendwie anwendbar oder gar profitabel? Sitzen die vergeistigten Wissenschaftler nicht vielmehr abgeschottet in ihrem berüchtigten Elfenbeinturm, aus dem sie vielleicht einmal im Monat nach 23 Uhr vor die Kamera gezerrt werden, um Stellung zum Thema Bioethik zu nehmen?


Natur- und Technikwissenschaften sind nutzbar, so scheint es, somit ist ihre Förderung auch wirtschaftlich gerechtfertigt. Aber welchen Nutzen zieht die Gesellschaft aus dem Wissen über den Einfluss der Dorischen Wanderung auf die Siedlungsgeschichte des Peloponnes? Mal abgesehen davon, dass viele Erkenntnisse der Naturwissenschaft keineswegs technisch umgesetzt werden, befinden sich die Geisteswissenschaften im Kampf um die Sinnhaftigkeit ihrer Forschungen in der Defensive. Ob sich den ständigen Rechtfertigungsversuchen und Kompromissen der Geisteswissenschaften an unserer Uni – schließlich könne man ja nicht mit „etablierten Standorten wie Tübingen oder Freiburg konkurrieren“, sagte TU-Präsident Hesselbach im Interview in der letzten Ausgabe; als ob man das überhaupt wolle oder müsse – auch etwas Positives abgewinnen lässt, wird sich zeigen, wenn der neue Masterstudiengang „Kultur der technisch-wissenschaftlichen Welt“ angelaufen ist.


Der Philosoph Jürgen Mittelstraß hat aus dieser defensiven Situation heraus versucht, den Nutzen der Geisteswissenschaften durch die Einführung der Konzepte von Verfügungswissen und Orientierungswissen zu erweisen. Die Frage: „Was können wir tun?“, geht demnach an die Naturwissenschaftler und Techniker. Sie bieten das Verfügungswissen um Ursachen, Wirkungen und Mittel. Die Frage: „Was sollen wir tun?“, hingegen beantworten uns angeblich die Geisteswissenschaften. Aber können die Germanisten, Philosophen, Historiker etc. das wirklich leisten? Bietet eine Abhandlung über die Verwendung von Genitivkonstruktionen im genus grande der barocken Lyrik tatsächlich Orientierungswissen? Diese Frage überzeugend zu bejahen, dürfte schwierig sein. Ist die Konsequenz daraus, dass geisteswissenschaftliche Forschung, die ihrer Aufgabe als „Hüterin des kulturellen Gedächtnisses“ (was immer das sein mag), nicht nachkommt, nutzlos und somit nicht zu finanzieren ist?


Fast scheint es so. Die Rahmenbedingungen für geisteswissenschaftliche Forschung an den deutschen Universitäten können größtenteils schlicht als mies bezeichnet werden. Schlechte Ausstattung, kein Geld für die Bibliotheken, zu wenig Personal in Forschung und Lehre. Dazu kommen Kriterienkataloge zur ‚leistungsbezogenen Besoldung‘, die Geisteswissenschaftler strukturell benachteiligen und den wissenschaftlichen Nachwuchs mit Hungerlöhnen abspeist, die unter anderem auch den Gedanken an Familienplanung absurd erscheinen lässt (was wiederum ein ganz anderes Fass öffnet).


An dieser Situation ändert sich auch dadurch nichts, dass Sonderbereichen, die gerade angesagt und von ‚fächerübergreifender Relevanz‘ sind (beispielsweise Bioethik oder Medienforschung; wie kurzlebig solche Trends sein können, zeigen die Gender Studies), spezielle Fördermittel zugedacht werden. Zusätzlich wird das wissenschaftliche Arbeiten auch noch durch immer mehr Serviceleistungen belastet: Einen Happen Englisch für den BWL-Studenten, ein strammer Marsch durch die Rechtsgeschichte für die Juristin und eine ethische Grundausstattung für Mediziner. Da diese Serviceleistungen aber teilweise zum einzigen Existenzgrund der Geisteswissenschaften verkommen – so angedeutet von Präsident Hesselbach mit dem Begriff „Dienstleistungscharakter“ im Interview in der letzten Ausgabe – stehen diese Dienstleister längst nicht mehr auf einem Fundament eigener Forschungen und können sich folglich kaum noch als Wissenschaftler bezeichnen.


Gibt es einen Ausweg aus dieser Misere? Statt sich in Verteidigungsposition immer neue Argumente für den gesellschaftlichen Nutzen ihrer Arbeit auszudenken, sollten die Geisteswissenschaftler offensiv an den eigentlichen Kern von Wissenschaft erinnern. Daran, dass Philosophie nicht so profitabel ist wie Maschinenbau, ändert auch die Berufung eines Philosophen zum Präsidenten der Auto-Uni nichts. Auf der Suche nach Nutzen können sich höchstens einige wenige Bereiche der Geisteswissenschaften durchschlagen, die gerade im Trend liegen.

Die eigentliche Grundlage von Wissenschaft aber ist Erkenntnis, nicht Nutzbarkeit. Für Aristoteles und die Alten Griechen - auf die unsere Vorstellung von Wissenschaft und unsere wissenschaftliche Kultur zurückgehen - war Wissenschaft sogar explizit frei von jeglicher Anwendungsbezogenheit, und das galt für den Physiker genauso wie für den Historiker. Den Nutzen der Geisteswissenschaften darin zu suchen, den Menschen in Zeiten, in denen Kirchen und politische Ideologien ihre Fähigkeit verlieren, ein festes und sicheres Weltbild anzubieten, Gewissheiten zur Orientierung innerhalb der Gesellschaft zu liefern, – so wie Mittelstraß es vorschlägt – ist letztlich keine sinnvolle (oder realistische) Lösung des Problems. Denn die Geisteswissenschaften können den Leuten nicht vorgeben, was sie glauben und tun sollen. Das sollen sie auch gar nicht. „Wissenschaft ist an Erkenntnis um der Erkenntnis willen interessiert – und hat sich nicht dem Diktat eines gerade poppigen Nutzdenkens zu unterwerfen. Tut sie dies, prostituiert sie sich“ (Andreas U. Sommer: Geisteswissenschaften privatisieren? In: Universitas, Nr. 716, Februar 2006). Das freie Erkenntnisinteresse ohne die Einflussnahme sozialer oder politischer Zwänge ist das Fundament der Wissenschaft. Die Geisteswissenschaften sollten sich wieder auf ihr Kerngeschäft konzentrieren können, ohne sich fragen zu müssen, ob eine Untersuchung über die Abhängigkeit des christlichen Ritterideals vom Kreuzzugsgedanken nützlich ist. Denn mehr können und sollen sie nicht leisten. Ob die Gesellschaft es sich leisten will, Erkenntnis um der Erkenntnis willen zu finanzieren ist eine andere Frage, die politisch entschieden werden muss. Wirtschaftlich gesehen sind die Geisteswissenschaften letztendlich verzichtbar.


Die Frage jedoch, welchen Einfluss der Verzicht auf eine von Nutzdenken freie, rein erkenntnisgesteuerte Wissenschaft auf unsere Gesellschaft haben würde, sollte einmal eingehend untersucht werden – definitiv eine geisteswissenschaftliche Aufgabe.

Johannes Kaufmann

Lesenswert:

Andreas Urs Sommer: Geisteswissenschaften privatisieren? In: Universitas, Nr. 716, Februar 2006.

Hochschulstatistiken des Statistischen Bundesamts: http://www.destatis.de/themen/d/thm_bildung3.php