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Kategorie Regionales
Ausgabe SoSe07 - 6
Autor Ramona Breyer

Wo Elfe und Fledermaus sich Gute Nacht sagen…

… muss es sich um Lesungen auf der Oker handeln

Es war einmal in Braunschweig zu einer märchenhaften Zeit; einer Zeit, in der nicht nur der König Bürgermeister seiner Stadt jede Menge Presse verschaffte und das ganze Märchenland daran erinnerte, wie Politik vor 70 Jahren in Deutschland gemacht wurde. Nein, er hatte der Stadt außerdem ein Traumschloss mit Traum-Vorhofplatz und dazugehöriger Traum-Schloss-Haltestelle beschert. Und während die hörigen Untertanen nun fast täglich zum Schlosse pilgern, um dort brav den Zehnten abzutreten, scheint es fast unglaublich, dass drei junge Studenten der Geisteswissenschaft es schaffen, einen Teil des vom Wege abgekommenen Volkes donnerstags des heißen Braunschweiger Sommers auf der Oker zu versammeln, um ihnen von einer Zeit zu berichten, in der des Königs schöne Töchter noch von tapferen Helden gerettet wurden und alle Menschen glücklich bis ans Ende ihrer Tage lebten. In jener vergangenen Zeit waren die Schlösser noch echt – eine Zeit voller Magie und sprechender Spiegel. Eineinhalb Stunden literarische Märchenlesungen auf der Oker sind in der jetzigen Braunschweiger Epoche des Konsums, der Merz-Renovierungen und falscher Paläste eine Seltenheit, und doch versucht sich der alternative Studentenpöbel der Gegenwart im Sommer an diesem Experiment. Nicht nur die sieben Zwerge der BUZe-Redaktion sind begeistert von dieser literarischen Gegenbewegung, auch immer mehr Braunschweiger begeben sich auf den goldenen Pfad zum John-F.-Kennedy Platz, um dort nach einer Welt außerhalb der üblichen (Schloss)Fassade zu suchen. Groß und Klein sind hier gleichermaßen zur „Blauen Stunde“, der Zeit zwischen Tag und Nacht, willkommen. Ganz im Sinne Hans Christian Andersens, der ja bekanntlich am liebsten in kleinen Familienkreisen seine Werke vortrug, wird auf der Oker ein kuscheliges Floß zum Wohnzimmer. Wenn auch ohne Kamin, dafür mit Kerzen, Kostümen und Flussgeplätscher.

Und wie in jedem guten Märchen hat alles ganz bezaubernd angefangen. Bereits vor einem Jahr lief die ebenfalls von den Studierenden organisierte Lesereihe „Nachtwachen“ sehr erfolgreich in der Stadt und brachte frischen Wind in die literarische Szene Braunschweigs. Alle spielten mit: die Fledermäuse an der Oker, das Wetter, die überraschend klare Akustik im Museumspark, die auffällig gut gelaunten Oker-Enten und natürlich auch die abtrünnigen Fans von allem, was nicht aufgesetzt und künstlich ist. Wer hier nach roten Samtsofas und Chillout-Musik sucht, wird enttäuscht. Und das ist auch gut so. Denn nun führen die überaus motivierten Germanisten diese Lesung nicht nur weiter fort, sondern setzen mit der „Blauen Stunde“ noch einen drauf und tragen so zur Lösung des allgemeinen Problems – „Mal was anderes als Jazz in Braunschweig“ – entschieden bei. Die Literaturliste der zum Teil sehr düsteren „Nachtwachen“-Veranstaltungen orientiert sich an schaurig-gruseligen Werken der Romantik à la Edgar Allen Poe, E.T.A. Hoffmann und Ludwig Tieck. Bei Poes Text „Der Untergang des Hauses Usher“ oder auch bei den morbiden Phantasien des H.P. Lovecraft hält es auch die letzte Fledermaus nicht mehr unter den Brücken, und niemand wird verachtet, weil er ab und zu nach Geistern am Okerufer Ausschau hält. Fans von anspruchsvoller Gruselliteratur, aber auch Kriminalliebhaber werden hier in Sachen literarischer Mord und Totschlag auf ihre Kosten kommen.

Auch in diesem Jahr ist wieder der Mandolinenspieler und Sänger (und heimlicher Star der Veranstaltung) mit dabei. Im Gepäck hat er natürlich die Gruselhymne „Der Schnitter“ – ein Stück aus dem 30-jährigen Krieg und Highlight einer jeden „Nachtwachen“-Lesung. Unter den wuchtigen Steinbrücken der Oker spielt er in den Lesepausen unter anderem aber auch Goethe- und Heinevertonungen des Erlkönigs oder der Lorelei. Während sich die Vorleser für die „Nachtwachen“ in schwarze Umhänge kleiden und eine düstere Miene aufsetzen, werfen sie sich für die „Blaue Stunde“ in schicke Strumpfhosen und feine Roben. Ihr Mandoline spielender Kommilitone passt mit seinem von Natur aus elfenhaften Auftreten von ganz allein sowohl zur schaurigen als auch zur märchenhaften Lesung. Der gestalterische Aufwand und die Liebe zum Detail allein sind schon eine Reise zu Floß ins Königreich far far away wert.

Die „Blaue Stunde“ beschäftigt sich mit Geschichten von Königreichen und Schlössern, mit Elfen und Prinzessinnen. Mit der Suche nach Glück und dem großen Happy End. Vorgelesen werden ausgewählte Märchen der Brüder Grimm sowie von Hans Christian Andersen, Josef von Eichendorff und anderen bekannten und nicht so bekannten Autoren. Die musikalische Begleitung mit Mandoline greift alte Volkslieder auf, die zur Stimmung der Fahrt passen und Kindern, genauso wie Eltern gefallen dürften. Das schwimmende Wohnzimmer beginnt seine Fahrt dort, wo einst die Reiterstandbilder der Herzöge zu Braunschweig standen, schippert durch den Museums- und Theaterpark, wendet gekonnt am Fallersleber Torwall unter musikalischer Begleitung und steuert nach der Hälfte der Vorlesezeit den heimatlichen Hafen wieder an. Natürlich findet diese Veranstaltung vor den „Nachtwachen“ statt, sodass kleinere Besucher nicht vor Müdigkeit vom Floß fallen.

Wer jetzt Blut geleckt hat oder wahlweise ganz verzaubert ist, der sollte sich unbedingt vom Bohlweg wegbewegen, Richtung Bootsstation am Kennedyplatz gehen und schnell Karten reservieren. Vereins- und Gruppenausflüge können von der BUZe-Redaktion als uneingeschränkt empfehlenswert angepriesen werden. Informationen und Kontakt gibt es unter www.bootsstation.de oder unter Telefon 270 27 24.

Ramona Breyer